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katalonien 2017

„Ihr werdet jetzt wahrscheinlich über mein Spanisch lachen“, sagt Schulleiterin Anna ihren Schülern mit einem Zwinkern, bevor sie ihre Willkommensrede beginnt. Denn sonst spricht sie immer Katalanisch mit ihnen. „Bienvenidos en Cataluña“

, begrüßt sie uns in der Schule „Sant Jaume – Les Heures“ dann doch in sicherem Castellano, allerdings mit etwas gaumigem Akzent.
Kurz vor dem Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens am 1. Oktober sind Frau Oggensen und ich mit 14 Schülern des Bondenwald zum Schüleraustausch nach Lleida gefahren.
Lleida hat keine Ramblas, keinen Gaudí, keinen Strand – mit seinen 140.000 Einwohnern ist die Stadt eher so etwas wie das Bielefeld Spaniens. Alle haben davon gehört, nur die wenigsten sind jemals dort gewesen. Im Grenzgebiet zwischen Katalonien, Frankreich und Spanien wurde Lleida immer wieder in zahlreichen Konflikten zerstört. Es gibt keine schnuckelige Altstadt, stattdessen schnell hochgezogene Neubaufassaden, es gibt keine Bankenviertel mit glitzernden Kristalltürmen, dafür aber jede Menge Obst- und Gemüsehaine. Und anstatt von Tapas aus Gambas und Tintenfischen kommen Schnecken auf den Tisch, die sich an den Büschen entlang des Flusses Segre nur so tummeln.
In der Hauptstadt Barcelona hat es das Katalanische immer schwer gehabt, sich zu behaupten; in U-Bahnen, Geschäften und Restaurants wird viel Spanisch gesprochen. Die boomende Metropole hat immer schon Menschen aus dem armen Andalusien, Lateinamerika und dem Rest Spaniens angezogen, die ihre Sprache importiert haben. Aber fernab der Großstadt wird umso deutlicher, warum die Katalanen so sehr an ihrem Català hängen: Es ist die Sprache der Kinderlieder, der Geschichten der Großmutter, des Sportvereins und der Familie. Unsere Austauschpartner wissen, dass wir gekommen sind, um Spanisch zu lernen und geben sich große Mühe, es zu sprechen. Sobald sie allerdings mal unter sich sind, fallen sie ins Katalanische zurück. Es ist ihre Muttersprache, auch wenn in der Schule, so wie es das Gesetz vorsieht, beide Sprachen zu gleichen Anteilen unterrichtet werden.
Dem entsprechend ist der erste Programmpunkt unserer Reise ein kleiner Katalanischkurs. Wir fragen uns gegenseitig, wie wir heißen: „Com et dius?“, auf Spanisch „¿Cómo te llamas?“, und stellen uns vor. Viele Ausdrücke und Wortteile kommen mir bekannt vor, dann gibt es da aber noch so etwas wie französische Nasale und ein kehliges L, das so ähnlich klingt, wie wenn ein Rheinländer „Kölle“ sagt.
Mit ihrem katalanischen Partner haben unsere Schüler einen kleinen Text vorbereitet, in dem sie sich auf Katalanisch vorstellen. Als ein Deutscher dabei „Visça Catalunya!“ ruft, „Es lebe Katalonien!“, bricht ein tosender Applaus unter den Schülern los.
Den Abend verbringe ich bei der Familie von Ramon, dem Kollegen, bei dem ich untergebracht bin. Die beiden großen Kinder sind zweisprachig, nur die Kleine tut sich mit dem Spanischen noch etwas schwer. Sie versteht alles, was ich sage, antwortet aber immer noch auf Català.
Zusammen schauen wir zuerst die Nachrichten auf Katalanisch, danach „Game of Thrones“ auf Spanisch: HBO und Co werden nur ins Spanische übersetzt.
 Plötzlich tönt es von draußen her wie das Glockengeläut einer Kuhherde: Die so genannte Cacerolada. Es ist so laut, dass wir die Serie kaum mehr verstehen. Jeden Abend treten die Leute auf ihre Balkone und hauen mit Löffeln gegen Töpfe und Pfannen, um ihren Protest gegen das Verbot des Referendums auszudrücken. Ich kann es nicht beziffern, wie viele Menschen mitmachen, aber es sind viele. Keiner schreit „Libertat“ oder schwenkt eine Fahne, es ist eine friedliche, aber beharrliche Übereinkunft, eine Forderung, die sich jeden Abend um 22 Uhr wiederholt.
„Es ist keine Frage mehr von Unabhängigkeit“, erklärt Ramon, „es ist eine Frage der Demokratie, wir wollen das Recht zu wählen. Viele Leute, die vor einiger Zeit noch gegen die Unabhängigkeit waren, sind jetzt dafür.“
Draußen in Barcelona tickt indes der Countdown für das Referendum: Madrid verhaftet Mitglieder der Lokalregierung, und schickt seine Militärpolizei, die Guardia Civil, nach Katalonien, weil die sich die katalanische Polizei geweigert hatte, Wahlurnen zu konfiszieren.
Die Gefahr eines mit Waffen geführten Konfliktes sehen die Menschen hier allerdings nicht. Wen ich auch darauf anspreche, immer wieder höre ich den Satz: „Wir Katalanen sind friedliche Leute.“
Am Wochenende fahre ich mit den katalanischen Kollegen und ihren Familien auf Mountainbikes den Segre entlang an Obsthainen vorbei und durch die Dörfer. Dabei unterqueren wir eine nagelneue Betonbrücke des spanischen Hochgeschwindigkeitszuges AVE. „Erzähl das bloß nicht der Merkel“, scherzt Josep María, der beruflich mit Finanzen zu tun hat. „Was das für ein Geld gekostet hat: die Strecken, die Bahnhöfe, die Züge. Und keiner nutzt das. In manchen Städten steigen kaum Leute ein. Auch aus diesem Grund wollen wir raus. Madrid gibt das Geld aus und wir müssen dafür zahlen“.
Nach dem Wochenende steht ein Tagesausflug nach Barcelona an. Mir ist etwas mulmig zumute, denn als Lehrer möchte ich die Schüler keinem Risiko aussetzen. Aber unsere spanischen Kollegen versichern uns: „Wir Katalanen sind friedliche Leute“. Und abgesehen von einem Spruchband „Més democràcia“ vor dem Gebäude der Generalitat, ist kaum etwas zu bemerken. Auch die Si!-Aufkleber, die in Lleida an jeder Wand kleben, scheinen alle abgerissen.
Erst auf dem Rückweg werden wir beim Blick aus dem Bus wieder mit dem Thema konfrontiert. Denn weit hinten im Industriehafen liegen die drei Kreuzfahrtschiffe, in denen Madrid seine Guardia Civil nach Barcelona verlegt hat. Gut zu erkennen an der quietschbunten Bordwand mit Tweety, Coyote und dem Kater Sylvester. Sich dieser Ironie bewusst, hatte die Guardia Civil die Fassade mit einem schwarzen Tuch abgedeckt. Unter dem Hashtag #FreePiolín, befreit Tweety, machte sich ganz Katalonien darüber lustig. Inzwischen hat sich Tweety wohl schon selbst befreit - das halbherzig aufgehängte Tuch ist abgefallen.
Am Abend treffen wir uns mit Víctor, dem Mann einer Lehrerin. Er ist sehr besorgt: „Schiffe im Hafen mit Militärpolizei, das gab es das letzte Mal unter Diktator Franco, als sie Leute zum Foltern abgeholt haben.“
Bis zu Francos Tod 1975 wurde jedwede regionale Identität in Spanien unterdrückt: Dissidenten landeten im Gefängnis, und der Gebrauch der katalanischen Sprache war strikt verboten. Aus der Schule blieb das Katalanische vollständig verbannt. Lediglich in der Familie wurde es weiter heimlich gesprochen. Erst mit König Juan Carlos, dem „König für alle“, kam das Katalanische offiziell zurück. Von Franco als Nachfolger eingesetzt, wandte sich Juan Carlos plötzlich von der Diktatur ab und baute Spanien zu einer Demokratie um. Mit der Politik des „Café para todos", Kaffee für alle, sollten die Regionen wieder eigene Rechte erhalten. Nach langen Verhandlungen bekam Katalonien durch das Autonomiestatut von 1979 ein eigenes Parlament, eine Polizei und auch das Katalanische kehrte in Schule und Verwaltung zurück.
Eine Zeit lang sah es so aus, als würde sich die Bevölkerung mit der Idee, als Teil Spaniens fortzubestehen, anfreunden. Erst mit der Reform des Autonomiestatutes im Jahre 2006 kamen die Separatisten wieder auf den Plan. Denn viele Paragraphen des zusammen mit dem spanischen Parlament abgestimmten Statutes wurden im Laufe der Folgejahre vom Verfassungsgericht wieder gekippt.
Die Wirtschaftskrise, die Kürzungen aus Madrid und die immer wieder ans Tageslicht kommenden Skandale der politischen Klasse haben ihr Übriges zur Wut der Menschen beigetragen. Immer mehr gerieten die Transferleistungen, die die wirtschaftsstarke Region zahlen muss, in die Kritik. Mit jeder Wahl bekamen die Katalanisten im Parlament wieder mehr Stimmen, was nun in dem Referendum von Präsident Puigdemont gipfelt.
Die katalanische Szene ist auf Twitter stark vernetzt. Jeder Schritt Madrids und der Generalitat wird verfolgt und kommentiert. Meine katalanischen Freunde teilen Videos über die Nationenbildung Kataloniens, Interviews von andalusischen Einwanderern, die die Unabhängigkeit fordern, und Witze über den Zentralstaat. Auch im Rest von Spanien scheint die Stimmung aufgeheizt. Ein Video macht die Runde, in dem Demonstranten aus Huelva, Andalusien, die Guardia Civil verabschieden: „A por ellos“, grölen sie und schwenken dabei die spanische Flagge. Wie vor einem Fußballspiel: „Schnappt sie euch!“
Am letzten Tag unseres Austausches stehen wir mit Eltern, Lehrern und Schülern auf dem Schulhof und feiern Abschied. An der Wand hängen eine katalanische und eine deutsche Flagge. Wir hätten auch lieber eine Hamburger Flagge gehabt, aber aus anderen Gründen.
Eine intensive Woche geht zu Ende, die Kinder haben ihre Zimmer und ihre Zeit geteilt und die Familien haben alles dafür getan, dass es uns hier gut geht. Viele Freundschaften sind dabei entstanden und wir freuen uns auf den Gegenbesuch in Hamburg.
Besorgt verlassen wir die Stadt und wünschen unseren Freunden das Beste für ihre Zukunft und die Zukunft Kataloniens, wie auch immer sie aussehen mag.
Jost Fromhage