Ein Dutzend Jungen und Mädchen aus der 8. Klasse drängen sich auf zwei Schlauchbooten dicht zusammen. Es herrscht starker Seegang, die Boote wackeln, die Schüler halten sich fest. Plötzlich fällt einer ins Wasser.
„Du bist tot“, bestimmt der syrische Guide. Den Rest der Bootsfahrt muss der Junge das Geschehen von einem Stuhl aus beobachten. Währenddessen erzählt Ebaa, 21, wie er aus Syrien von Ägypten aus mit dem Schiff geflohen ist - damals selbst noch minderjährig.
Die 8. Klassen des Gymnasiums Bondenwald haben Anfang Februar an einem Projekttag zum Thema Flucht im Begegnungszentrum Alte Schule teilgenommen. Drei syrische Flüchtlinge schleusten sie dabei, basierend auf eigenen Erfahrungen, in den fiktiven Nahost-Staat Al Amar.
Deutschland 2019: Der IS ist bis nach Österreich vorgerückt, die EU ist auseinander gebrochen und in den Nachbarländern sind Le Pen und Co an der Macht. Auch Deutschland rüstet auf. Es herrscht allgemeine Wehrpflicht ab 14. Die Mädchen müssen zurück an den Herd und sich für die Reproduktion reinrassiger Deutscher bereithalten– aus diesem extremen Szenario, das als Nachrichten über den Bildschirm flimmert, wollen die Schüler fliehen.
Zuerst benötigen sie das Geld dafür. Sie müssen Pailletten auf T-Shirts nähen und dürfen dabei nicht sprechen. Ein Schüler kichert, plötzlich knallt die Tür auf. Der Guide Mohamed in der Rolle des Aufsehers brüllt etwas auf Arabisch. „Yalla!“, schreit er immer wieder, „Schneller!“. Er nimmt seine Rolle sehr ernst, kein Schüler traut sich mehr zu sprechen. „Wir wurden sogar geschlagen“, erzählt der Syrer später über seine eigenen Erfahrungen.
Andere Kinder verdienen ihr Geld mit Putzen, aber der Arbeitgeber mit russischem Akzent ist gar nicht zufrieden: „Deutsche sind faul, sie können nicht arbeiten!“
Ein paar Worte Arabisch müssen die Kinder auch noch lernen. In einem improvisierten Auffanglager unter einer Treppe kauern sie zusammen und versuchen, sich ein paar Brocken zu merken. Dann geraten sie an einen Schleuser, der ihnen zunächst die Augen verbindet; kein Flüchtling darf den Weg kennen, falls er von der Polizei aufgegriffen wird. Sie fassen sich an den Schultern und folgen dem Schleuser – ganz still sind sie dabei. Plötzlich brüllt sie Mohamed, als Polizist verkleidet, auf Arabisch an. Sie werden einzeln an die Wand gestellt und gefilzt.
Immer wieder Warten, Fragen beantworten und weiter.... Endlich haben sie es auf das Schiff geschafft. Das ist einer der authentischsten Momente des Planspiels. Ebaa erzählt, wie der Schleuser ihm einen seiner beiden Rucksäcke abnehmen wollte. Doch darauf ließ er sich nicht ein: „Ich habe dich bezahlt, ich bestimme, was ich mitnehme“. So viel Glück hatten nicht alle; eine Mutter musste ihren Rucksack mit Medikamenten für ihr Kind in Afrika lassen. Am vierten Tag starb dann das Kind. Den Rest der Fahrt war sie wie paralysiert, weinte nicht, sagte kein Wort mehr. Hätte Ebaa gewusst, worauf er sich da einließ - er wäre nie mitgekommen. Es war eng, es war gefährlich, jeder kämpfte für sich ums Überleben. Es gab keine Toiletten und im Schlaf wurde man beklaut: Handy, Geld und Lebensmittel weg. Am fünften Tag waren die Vorräte verbraucht. Vier weitere zehrende Tage rangen die Flüchtenden um die wenigen geschmuggelten Notreserven.
Betroffen und gebannt folgen die Schüler jedem Wort. In Ebaas Gesicht ist keine Spur von Trauer oder Leid - er ist gutaussehend, spricht flüssig Deutsch und wenn er erzählt, blitzt der Schalk aus seinen Augen. Das ist ein junger Mann voll Kraft und Optimismus mit einer Zukunft.
Angekommen in Al Amar sind die Schüler alles andere als willkommen. In einem improvisierten Aufnahmezentrum müssen sie sich registrieren. Ein Beamter brüllt immer wieder etwas auf Arabisch, die Schüler bekommen nur einzelne Brocken übersetzt. So muss sich das anfühlen für viele Flüchtlinge, hilflos, stumm, ausgeliefert. Unterschrift, Fingerabdruck, es fehlen eigentlich nur die Handschellen.
Schließlich bleibt nur noch die Integration. Der erste Schritt dazu macht den Kindern sichtlich Spaß und erscheint ihnen wie pure Erholung von den Strapazen der Flucht: Mädchen ziehen ein Kopftuch über und Jungs setzen sich einen Turban auf.
Jost Fromhage